HT 2023: Sinnliche „Fakten“? Die Fragilität von Umweltwissen in der Moderne

HT 2023: Sinnliche „Fakten“? Die Fragilität von Umweltwissen in der Moderne

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Anne Hehl, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Hinwendung der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu sensuell-körperlichen und emotional empfundenen bzw. beschriebenen Umwelt-Phänomenen als historische Quellen der Wissensproduktion bildete den thematischen Rahmen dieser Sektion. Die Schnittstelle dieses in jüngster Zeit verstärkt beforschten Interessensgebietes, das sich zwischen sensory studies, Emotionsgeschichte und Umweltgeschichte bewegt, stellt Fragen nach der Rolle des menschlichen Körpers bei der Wissensproduktion und -überprüfung sowie nach Alltagserfahrungen mit abiotischen Umweltfaktoren und nicht-menschlichen Akteur:innen (im Sinne Bruno Latours). Die Verschränkung von Sinnes- und Emotionsgeschichte mit der Fokussierung und Aufwertung von Geschichte(n) marginalisierter Gruppen wie Frauen, psychisch kranker oder exilierter Personen liegt bei diesem historisch-anthropologischen Zugang zu Mensch-Umwelt-Beziehungen nahe.

Im ersten Vortrag zeigte MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) anhand psychiatrischer Gutachten aus dem Tiroler Raum des 19. Jahrhunderts eindrücklich, dass regional spezifische Wetterphänomene, wie der im Titel genannte Föhn, die Wissensproduktion auf den Gebieten der Medizin, Psychiatrie und Meteorologie gleichermaßen geprägt haben. Die Nähe zwischen kulturellen und medizingeschichtlichen Bedeutungen des Föhnwinds in alpinen Regionen wird durch die Analyse medizinischer Diagnosen sogenannter „Gemütskranker“ und „Melancholiker:innen“ deutlich: Verstanden sowohl als Metapher wie auch als nicht-menschlicher Akteur wurde dem Föhn, der mit synästhetischen Qualitäten wie milden Temperaturen, guter Fernsicht, besonderer Wolkenstimmungen und der Verbreitung ferner (Land-) Gerüche einhergeht, eine starke psycho-physische Wirkung auf den menschlichen Körper zugeschrieben. Als Folge seines Aufkommens verschlimmerte sich, so die Überzeugung, der seelische Zustand von Patient:innen, kränklichen oder zu „Hysterie“ neigenden Menschen, da er „Aufwallung“ und „stürmische Unruhe“ verursachte. Eine massenpsychologische Wirkung wurde überdies durch „negative Akklimatisation“ an regionale Wetterlagen angenommen: Je länger sich Menschen in Föhnwind-Gebieten aufhielten, desto empfindlicher reagierten sie auf das Wetter.

Diese Parallelisierung von Wind und seelischem Leid oder „Wahnsinn“, die bereits in der Antike formuliert wurde, fand, so Heidegger, über den tief verwurzelten „Föhnglauben“ der Bevölkerung in Alpentälern und durch Mediziner Eingang in die Nervenlehre des 19. Jahrhunderts. Zudem reproduzieren und verankern literarische Metaphoriken Assoziationen von Wind, Ansteckung und Informationsverbreitung und naturalisieren gleichsam die Verknüpfung von Wind mit Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit. In regional unterschiedlichen Bezeichnungen wie „Italienischer Scirocco“, „Innsbrucker Föhn“, „Schweizer Föhn” oder schlicht „Unser Föhn“ spiegelt sich andererseits das identitätsstiftende Moment dieses Wetterphänomens.

Auch wenn moderne Wetterstationen, Wetterdatengewinnung und biometeorologische Studien letztlich die medizinische Relevanz und psycho-physische Interpretation der Föhnwirkung an den Rand drängten, so bestand die „Föhntheorie“ im literarisch-kulturellen Erbe fort.

Daran anschließend präsentierte RICHARD HÖLZL (Göttingen) in seinem Vortrag die Geschichte der Emotionalisierung und Moralisierung der Waldwirtschaft, insbesondere des Fällens von Bäumen, und des Begriffs der Nachhaltigkeit. War im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Nachhaltigkeit als moralische Kategorie noch unplausibel, so lässt sich anhand der als Einstiegstext gewählten, äußerst populären Kindergeschichte „Peterchens Mondfahrt“ von 1912 bereits ein Paradigmenwechsel deutlich machen: Antagonist der drei Helden-Figuren ist der böse „Mondmann“, der wegen des illegalen Fällens einer Birke und Holzdiebstahls auf den fernen, namensgebenden Trabanten verbannt wurde.

Etwa bis zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs verstand man unter Nachhaltigkeit die langfristige Sicherung des Holzvorkommens, diese beschrieb also ein rein (forst-) wirtschaftliches Prinzip. Waldbewirtschaftung nachhaltig zu konzipieren und durchzuführen wiederum setzte die Entstehung und Existenz eines Expertentums voraus, von dem Frauen und Waldnutzer:innen ausgeschlossen waren. Die Axiome der nachhaltigen Forstwirtschaft, die von dieser exklusiven Gruppe männlicher Wirtschaftsexperten formuliert wurden, definierten allein den dichten Hochwald als den schützenswerten Teil des Waldes und diesen als Eigentum. Axtschläge gehörten zu diesem System als notwendige und wertneutrale Praxis dazu, so Hölzl.

In der Literatur jedoch etablierte sich alsbald die Deutung vom Holzfällen als einem Zeichen des charakterlichen Niedergangs. Annette von Droste-Hülshoff beschreibt in der Novelle „Die Judenbuche“ (1842) den Klang der Axt und den Akt des Holzdiebstahls als Vorzeichen einer Demoralisierung der ländlichen Gesellschaft und als einen Abfall von der religiösen Ordnung. Auch in den Werken Marie von Ebner-Eschenbachs entfaltet sich an den „lautstarken“ Motiven des Holzfällens und -sägens sowohl die Auseinandersetzung der Menschen mit dem Wald im Lichte zeitgenössischer, zunehmend exkludierender Forstpolitiken als auch die Emotionalisierung von Bäumen, Wäldern und Menschen, deren Leben von diesen Umwelten abhängen. Fiktionale Erzählungen spiegeln hier nicht bloß die Zustände der Wirklichkeit: vielmehr offenbaren sie die emotionale Haltung der Autorin gegenüber den sozialen Realitäten der Menschen und erheben den Umgang mit dem Wald zur moralischen Kategorie.

Literarische Soundscapes, so konnte Hölzl demonstrieren, erfüllen in den exemplarisch untersuchten Werken drei Zwecke: als Erzähltechnik erzeugen sie Spannung und Lesegenuss, als wiederkehrendes Motiv nutzen Autor:innen sie zur Moralisierung und Emotionalisierung und schließlich dienten sie – anders als Zeitzeugnisse – den Autor:innen als Mittel zur Intervention in gesellschaftliche Debatten.

WILKO GRAF VON HARDENBERG (Berlin) stellte im dritten Vortrag die Frage danach, ob in der Geschichte des Umweltschutzes, die häufig als Geschichte des Erhalts visueller Eigenschaften erzählt wird, nicht andere Sinnesqualitäten eine ebenso bedeutende Rolle gespielt haben. Quellengrundlage zur Untersuchung dieser These stellen die Zeitschriften „Blätter für Naturschutz“ und „Naturschutz“ dar. Begleitet wurde diese Analyse von dem Forschungsinteresse, inwieweit beide Organe zur Bildung eines Diskussionsraums zur Entstehung von Naturschutzbewegungen beigetragen haben.

Bereits 1880 sprach sich Ernst Rudorff, Musiker, Komponist und Naturschützer, für den Erhalt von Klanglandschaften aus. Bedroht sah er diese durch Technik und Maschinenlärm. Auch der Zoologe Konrad Guenther bemerkte 1910 das „Verstummen der Natur“ und vermutete, entgegen der landläufigen Meinung, den Grund für den Rückgang natürlicher Geräuschkulissen in der Ausbreitung der Landwirtschaft und Technik, nicht in der Aktivität von Raubtieren. Die menschliche Stimme galt vielen Natur-Freund:innen ebenfalls als Störfaktor in der „erhabenen“ Natur, die durch diese „entweiht“ würde. Stille und Heiligkeit, die in vielen religiösen Traditionen und Praktiken ein untrennbares Begriffspaar bilden, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auf natürliche Räume übertragen und setzten sich bald als Motivation zu deren Schutz durch.

Eine besondere Rolle spielten Sound-Beschreibungen in einem für die Geschichte des Naturschutzes sehr prägenden Zusammenhang: beim Schutz der Vögel. Um über die Tiere aufzuklären und sie als schützenswerte Lebewesen herauszustellen, wurden typische Vogelgesänge in mitunter sehr kreative Merksätze und -wörter der menschlichen Sprache übersetzt. Es fiel in den Aufgabenbereich der Naturkunde (als Vorläuferin naturwissenschaftlicher Teil-/Disziplinen), einem möglichst breiten Publikum jenes Hörwissen zu vermitteln, das positive Erlebnisse in der Natur durch Wiedererkennung ermöglichte. Aberglauben, wie das seit dem europäischen Mittelalter bekannte und verbreitete Motiv der „Wilden Jagd“ – ein nächtlicher Geisterzug, mit dem man sich unbekannte, lautstarke Naturgeräusche erklärte –, wichen durch sich durchsetzendes Umwelt- und Hörwissen bald der „Stimme der Natur“.

Mit zunehmender Erschließung naturnaher Regionen und wachsendem Tourismus geriet Letzterer in Konflikt mit dem Bewahrungs- und Stillebestreben der Naturschützenden. Zwar brachte der Fremdenverkehr die Chance zur Verbreitung des Naturschutzgedankens, die zusätzlichen lauten Menschenstimmen hingegen waren weniger willkommen. Kritik an den Tourist:innen ging zumeist einher mit einer grundsätzlichen Kritik an der Moderne, der die Natur als Stille und Ursprünglichkeit entgegengestellt wurde.

Naturklänge mögen in der Naturschutzgeschichte von zweitrangiger Bedeutung gewesen sein, so von Hardenberg, zur Aufklärung über Natur und zur Darstellung emotionaler und affektiver Weltbeziehungen aber waren und sind sie ein wichtiges Mittel des Ausdrucks.

KAROLIN WETJEN (Göttingen) diskutierte in ihrem Vortrag, ob sich auf Grundlage von Aufzeichnungen sinnlicher Wetterwahrnehmungen eine Klimageschichte schreiben ließe. Obwohl der Aufstieg der modernen Klimatologie und die fortschreitende Verwissenschaftlichung die Phänomenologie des Wetters abgewertet habe, so schließe die Erforschung der Ursprünge der Klimaforschung sensory studies, kulturwissenschaftliche und wissensgeschichtliche Fragen doch mit ein.

Die Wettervorhersagen der seit 1847 existierenden Meteorologischen Institute, die Wetterdaten zumindest regional sammelten, stimmten lange Zeit nur bedingt mit den in persönlichen Aufzeichnungen festgehaltenen gefühlten Temperaturen überein. Diese Diskrepanz versuchte die zeitgenössische Klimatologie zu überwinden, indem sie anstrebte, die “gefühlte Temperatur” zu berechnen und in diesem Prozess die sinnlichen Wahrnehmungen zu standardisieren und zu normieren. Qualitative Klimadaten über „tropische“ Kolonialgebiete sollten auch die gefühlten Temperaturen umfassen, um einen realitätsnahen Eindruck dieser Räume zu vermitteln. Die kolonial geprägte und eurozentrisch betriebene Klimatologie setzte die Klimabedingungen Europas und Nordamerikas (die sogenannten „most effective climates“) als Maßstab und trug damit dazu bei, andere Klimazonen und ihre Bewohner:innen systematisch abzuwerten.

Als Forum des Abgleichs von gefühlten und gemessenen Wetterdaten etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wettervorhersage in Tageszeitungen. Nicht selten wurden diese mit Erinnerungen an das vergangene Wetter und daraus geformten jahreszeitspezifischen Erwartungen abgeglichen. Denn in den Erinnerungen verdichtete sich das Wetterwissen zu Klimawissen, vor allem Wetter aus Kindheitserinnerungen wurde häufig als beständiger und schöner erinnert. Gesamtklimatische Änderungen aber ließen und lassen sich aus diesen Daten nicht ableiten.

Sinnliche Wahrnehmungen, so Wetjen, wurden schließlich Auslöser für das Sprechen über Klima und stabilisierten letztlich Klimawissen. Aufzeichnungen über Temperaturempfindung geben Aufschluss darüber, wie Menschen ihre Beziehungen zu Klima, Jahreszeiten und Natur organisierten. Aufgabe weiterer historischer Forschung muss es sein, den Zusammenhang von Temperatur in Medizin und Meteorologie vor dem Hintergrund von Kolonialismus zu ergründen und Wetterwahrnehmungen jenseits von Europa in den Blick zu nehmen. Dies kann einen wichtigen Beitrag in der überaus komplexen Geschichte des menschlichen Verständnisses von Klima liefern.

Im letzten Vortrag betrachtete REGINA THUMSER-WÖHS (Linz) den Zusammenhang von Klima und Exil im menschlichen Erleben. Die eingangs gestellten Fragen, wer wann welches Sinnes- und Klimawissen akkumulierte und welche Rolle Variablen dabei spielten, diskutierte sie an Egodokumente, Zeitungen, Reiseberichten und Monografien von deutschsprachigen Exilant:innen. Die Flucht ließ den Exilierten oftmals keine Wahl über ihren zukünftigen Lebensraum. Diese Erfahrung von Entwurzelung fragilisiert das festgehaltene Sinneswissen, veranschaulicht zugleich jedoch die Schnittmenge zwischen historischer und umweltpsychologischer Forschung.

Der Zustand der Eingewöhnung in die neuen Lebenswelten wurde von vielen Zeitzeug:innen als zweite Kindheit beschrieben: Den Umgang mit den neuartigen Sinneseindrücken mussten die exilierten Personen von Grund auf neu erlernen. Insbesondere die stark mit Emotionen assoziierten Gerüche wurden von den Betroffenen erinnert. Die smellscapes wandelten sich durch fremde und neue Gerüche. Der Geschmack von Gerichten konnte am ehesten imitiert, neues Geschmackswissen etwa anhand tropischer Früchte erworben werden.

An den Quellen offenbart sich, dass Wissen die Wahrnehmung und das Denken der Migrierten beeinflusste. Ob quasi-tropische Beschreibungen New Yorks oder Berichte über die auf der Haut nicht-spürbare Polarkälte, die die Gliedmaßen der Neuankömmlinge absterben ließ: Die Schärfung des eigenen Wissens fand dort statt, so Thumser-Wöhs, wo Erfahrungen mit anderen Umwelten und Mentalitäten gemacht wurden.

Die drei Fokusse des im Vortrag skizzierten Forschungsvorhabens – 1. Vorbereitung auf klimatische Bedingungen des Exils, 2. Überfahrt/en, 3. Ankommen im Exil – näherten sich dem historischen Wissen der Exilierten über Klima, Medizin, Körper, Zeit und Emotionen an. Eine solche Rekonstruktion der Wissensbestände von Geflüchteten kann einerseits helfen, den Verlust an Zeitzeug:innen zu kompensieren sowie Erfahrungsschätze und Gefühlswelten für die Zukunft zu sichern. Sie kann andererseits aber auch die Beschäftigung mit Themen der politischen Verfolgung (etwa gegenwärtige Fluchtbewegungen) fördern und diese über Klima- und Sinneswissen in Bezug setzen.

Die Vortragenden demonstrierten durch ihre multidisziplinäre Forschung überzeugend, wie der mit den Arbeiten Lucien Febvres, Norbert Elias’ und Johan Huizingas seit den 1990er-Jahren so häufig statuierte sensory turn in den Geschichtswissenschaften, der Brückenschlag zwischen Sinnes- und Wissensgeschichte, für einen bereichernden Beitrag zur Umwelt- und Klimageschichte fruchtbar gemacht werden kann. Wie anschlussfähig die (Neu-) Erschließung historischer Quellen und ihr Entstehungszusammenhang im Kontext von Wahrnehmung und Emotion auch gegenwärtig ist, zeigte die lebhafte Schlussdiskussion. Hierin wurde noch einmal das Potenzial der Sinnesgeschichte betont, Forschende für verschiedene Akteur:innen und Wissensformen in der Geschichte zu sensibilisieren.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Karolin Wetjen (Göttingen) / Regina Thumser-Wöhs (Linz)

Maria Heidegger (Innsbruck): Verweht und verwirrt. Der Föhn und die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts

Richard Hölzl (Göttingen): Der Klang der Axt. Emotion und Moralisierung von ‚Nachhaltigkeit‘ im 19. Jahrhundert

Wilko Graf von Hardenberg (Berlin): Natur hören. Zur Rolle des Auditiven in der Entwicklung von Naturschutzdiskursen, 1850–1950

Karolin Wetjen (Göttingen): Temperatur fühlen. Die Fragilität von Klimawissen im 20. Jahrhundert

Regina Thumser-Wöhs (Linz): Unsichtbares Gepäck. Sinnes- und Umweltwissen im Exil, 1933–1950

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